Daiana Lou – Liebe und Freiheit
Daiana Lou
Dezember 2019, ein frischer, klarer Freitagmorgen, kurz nach 13 Uhr unter der U-Bahn-Brücke Schönhauser Allee: Eine trocken knallende Kick-Drum, scheppernde Hi-Hats, eine schmutzige Gitarre und eine beseelte, magnetische Stimme, die klagen kann und feiern; leiden, zweifeln und fordern; schreien, rappen und flüstern; trösten, ermuntern, wärmen, verstören und attackieren; streicheln und kratzen – samtweich, reibeisenschürfend und messerscharf. Daiana Mingarelli und Luca Pignalberi haben sich 2015 von Rom nach Berlin aufgemacht, ihrem ureigenen Willen folgend, ihr Leben zu gestalten, auf der Suche nach dem Leben in all seiner Fülle, auf der Suche nach Freiheit, Veränderung, Anregungen, neuen Impulsen und Seelenverwandten, nach Glück, Liebe und Schmerz, nach Vielfalt, Autonomie, Toleranz, Solidarität und Gleichheit. Bevorzugter Ort ihrer Auftritte mit einer Mischung aus gecoverten und eigenen Songs wurde die Straße.
Busking bewegt und verändert – alles: Die Musiker*innen, die Zuhörer*innen, die Örtlichkeit. An der Schönhauser produzieren plötzlich nicht mehr vorbeirauschende Autos, kreischende Straßenbahnen und dumpf grollende U-Bahnen den Soundtrack, sondern Daiana Lou gestalten ihn. Ein paar Tage später bin ich wieder vor Ort und alles ist wie gewöhnlich, aber umgehend projiziert mein Gehirn oder was auch immer dafür auslösend ist, das ikonische Bild des Auftritts unter die Brücke: Zwei Persönlichkeiten, die die Kreativität und die Kraft haben, einen Ort umzugestalten, ihm eine Identität zu verleihen, die er vorher nicht hatte. Menschen, die sonst nur vorbeigehastet wären (und so belebt, wie er ist, so unwirtlich ist dieser Durchgangsort ja auch normalerweise), bleiben stehen und erleben Musik, die vielen von ihnen sonst entgangen wäre. Was ist nicht alles zu bestaunen, zu genießen: Tanzende Obdachlose; Tourist*innen auf der Suche nach einem besonderen Berlin-Erlebnis; Mütter, die ihre Vierjährigen sanft in den Arm nehmen, damit sie bei „Thousand Scars“ nicht gar zu traurig werden, obwohl sie kein Wort verstehen, aber trotzdem genau empfinden, was ausgedrückt wird; eine Frau jenseits der 60, die ihre Tränen nicht zurückhalten kann und mag und Daiana Mingarelli in den Arm nimmt, aber eben niemals in einen Club gegangen wäre; alte und neue Punks und Post-Punks, Rocker*innen und Hippies, die an vergangene und gegenwärtige Zeiten denken; junge, textsichere Hardcore-Fans, die jeden Song mitsingen können.
All diese Menschen bekommen in den wenigen Minuten, die sie verweilen und innehalten, einen unverhofften Sonnenstrahl, einen sanften Stubser oder auch einen schmerzhaften Stich in ihr Leben, oder auch alles; einen Soundtrack, der sie begleitet, vielleicht für diesen einen Tag, vielleicht für länger, vielleicht für immer. Daiana und Luca dürfen diese Wirkung ihrer Musik unmittelbar erleben, unberechenbar, jeden Tag anders, ganz nah und ganz individuell.
Musikalisch könnte man an die White Stripes denken, an die Ting Tings, an Gossip, an Amy Winehouse, an Manu Chao, an Gry, an die Yeah Yeah Yeahs, an die Kills, aber auch an zeitlich weit entfernte Wurzeln wie Robert Johnson und Lightnin‘ Hopkins. Dem Kern kommt man mit der Idee des Blues, des ewigen Blues, schon ziemlich nah, um ihn mäandern psychedelische Elemente genauso wie poppige und rockige, getrieben durch eine ungebändigte emotionale und intellektuelle Wucht, durch tiefes Empfinden; tiefes Empfinden auch und gerade von Gegensätzlichem, tiefes Empfinden und Reflektieren all der Widersprüchlichkeiten, die das Leben ausmachen und die in Zeiten der Selbstoptimierung unter Ausblendungspflicht gestellt zu werden drohen. Leben ist high and low mit allen Grau- und Bunt-Tönungen, die dazwischen liegen; Leben ist Angst, Freude und Zweifel, Lachen und Weinen, Ernst und Leichtigkeit, Leben ist Glück, Leben ist Stärke und Schwäche, Scheitern und Leistung, Leben ist keine Tracking-App, keine Fitness-Watch und kein Schrittzähler, Leben ist Feiern und Trauern, Leben ist Irren (Teilnahme bei X-Factor Italy 2016) und Umkehren (Ausstieg bei X-Factor), Leben ist Sterben – und manchmal alles gleichzeitig. Leben ist Widerspruch, Leben ist ein Oxymoron. Und dann fällt mir wieder ein, dass ein Auftritt unter einer Untergrundbahn-Brücke schon sehr treffend ist.
Wie paradox es zugehen kann, zeigt die Covid-19-Krise. Gedankenspiel an einem Sonnabendnachmittag kurz vor null Uhr Mitte April 2020: Könnten und würden sämtliche Bewohner*innen Deutschlands zu einem Immunitätstest verpflichtet werden, wäre das Ergebnis möglicherweise, dass die Zahl derer, die die Krankheit bereits hinter sich gebracht haben, ohne getestet worden zu sein, wesentlich höher ist als zuvor vermutet. Dann könnten die Reglementierungen und Restriktionen guten Gewissens schneller aufgehoben werden und mit Hilfe totalitärer Mittel wären bürgerliche Freiheiten wiederhergestellt worden.
Daiana Mingarelli hat in der Krise ein wahrhaft ergreifendes Duett mit ihrem Bruder Flavio aufgenommen, ein Cover von Antony and the Johnsons „Hope There’s Someone“, sie in Berlin, er in Rom; eine verzweifelte und doch von Hoffnung getragene Ode an menschliche Zuwendung, eine Ode an die Liebe nah am Rande des Abgrunds der Einsamkeit und des Todes.
„Days up and down they come
Like rain on a conga drum
Forget most, remember some
But don’t turn none away …
To live is to fly
Low and high
So shake the dust off of your wings
And the sleep out of your eyes“
(Townes Van Zandt, To Live Is To Fly)
Daiana Lou haben zwei Alben veröffentlicht, das erste 2017 mit dem programmatischen Titel „StreeTherapy“, das zweite Ende 2019, „Coordinates For Colorful Egos“, nicht weniger programmatisch Vielfalt, Individualität, Akzeptanz und Toleranz betonend. Passenderweise wird auch das musikalische Spektrum breiter und zeigt, dass Daiana Lou trotz einiger Jahre musikalischen Wirkens Suchende sind, neugierig auf sich selbst und auf das, was durch sie auf die Welt kommen könnte: Zum schweren, dunklen Blues gesellen sich flockiger Pop, flirrende Elektro-Beats, italienische Folklore, Rap und Psychedelia, und irgendwie muss ich an ziemlich viel zwischen P!nk, den Inca Babies, Aretha Franklin, Lily Allen, Béatrice Bonifassis Projekt Beast [ich empfehle „Out of Control“ und „Satan“ (Your kingdom must come down) vom leider einzigen Album „Beast“ von 2008], den Black Keys, Jane Allison, die auch keinen Plan hat, macht inzwischen Americana (ich empfehle eher „Disgrace“ und „Forgive Me“ von KarmaDevas 2008-er Album „Disgrace“), und Diamanda Galas zu Zeiten von „You must be certain of the Devil“ (1988) denken, was mich angenehm verwirrt. So viele Einflüsse, so viele mögliche Wege; wohin es gehen wird, dürften Daiana Lou selbst nicht wissen.
Finale assoziative Ab- und Ausschweifung: Mitte der Achtziger trat Diamanda Galas bei einem Experimental-Festival in der Weddinger Ackerstraße auf, das sich ein klein wenig in die Länge zog (die Show begann dann irgendwann gegen drei Uhr, was ja für Durchis und Druffis nicht schlimm ist in der Nacht von Dienstag auf Donnerstag). Dem Schreiberling einer ungenannt bleibenden Berliner Tageszeitung war das aber offenbar zu anstrengend, und so mäkelte er in seiner Konzertkritik, dass die Texte von Baudelairs „Fleurs du Mal“ aufgrund Galas‘ Gesangsstil unverständlich gewesen seien. Abgesehen davon, wie unsinnig der Einwand an sich ist, war es halt blöd, dass Diamanda Galas ihr ursprünglich angekündigtes Programm kurzfristig geändert hatte und von Baudelaire gar keine Rede sein konnte. Schon damals also: Vorsicht, Fake News! Bleibt also wach (für eine kleine Zwischenmahlzeit und ein Kaltgetränk ist auch nach 5 a.m. noch Zeit), vertraut dem Fanzine eurer Wahl, baut euch einen, hört Daiana Lou! Oder mit den Worten von First Aid Kit: „So much I know that things don’t grow if you don’t bless them with your patience“ (Emmylou).
Oma Thürmann